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ResearchWatch: Die Sprache der Piratenpartei – Ein Gespräch mit Frank Brettschneider und Jan Kercher von der Universität Hohenheim

2. Oktober 2012

Vor einigen Tagen erschien beim Ambition Verlag das Buch „Piratenkommunikation – Was die Eliten in Politik und Wirtschaft von den Piraten lernen können„. Der Autor, Kommunikationsexperte Oliver Wenzlaff, hat zahlreiche Piraten-Reden analysiert und mit Wissenschaftlern und Vertretern der Piratenpartei gesprochen, um zu ergründen, was das Besondere an der Kommunikation der Piratenpartei ist.

Für sein Buch sprach Oliver Wenzlaff auch mit den beiden Kommunikationswissenschaftlern Frank Brettschneider und Jan Kercher von der Universität Hohenheim. Frank Brettschneider ist Professor für Kommunikationswissenschaft an der Universität Hohenheimbei Stuttgart und beschäftigt sich seit Längerem mit der Verständlichkeit in Politik und Wirtschaft. Jan Kercher ist Mitarbeiter in Brettschneiders Team und hat zum Thema „Verstehen und Verständlichkeit von Politikersprache“ promoviert. Eine gekürzte Version des Interviews veröffentlichen wir hier mit freundlicher Genehmigung von Oliver Wenzlaff (das vollständige Interview findet sich im Anhang des Buchs ab Seite 152).

Oliver Wenzlaff: Sie haben gemessen, wie verständlich die Sprache der Piraten ist. Stimmt es, dass sie eine klarere Sprache sprechen als die übrigen Parteien?
Jan Kercher: Wir haben uns drei Plenardebatten aus Berlin angesehen und alle Parteien miteinander verglichen. Im Ergebnis müssen wir die Frage verneinen. Die Piraten erreichen Werte zwischen 5,6 und 8,2 Punkten auf einer Skala von 0 bis 10. Dabei ist 10 der beste Wert, steht also für die verständlichste Sprache. Die anderen Parteien in Berlin – CDU, SPD, Grüne und Linke – erreichen Werte zwischen 6,2 und 8,6 Punkten. Die Piraten befinden sich also irgendwo im Mittelfeld der Parteien. Zwar haben wir bislang nur eine relativ kleine Stichprobe untersucht. Es deutet sich aber dennoch an, dass sie im Durchschnitt keineswegs so verständlich sind, wie häufig angenommen wird.

Die Piraten sind also insgesamt – im Durchschnitt der untersuchten Reden in Berlin – nicht klarer verständlich als andere Parteien. Wie sieht das im Einzelfall aus und über Berlin hinaus?
Jan Kercher: Sie haben uns ja freundlicherweise im Vorfeld unseres Interviews einiges Material zugeschickt. Dabei waren Piraten-Reden unter anderem aus Nordrhein-Westfalen, Berlin, Bayern, Schleswig-Holstein und Hessen. Insgesamt waren es 18 Reden von 14 unterschiedlichen Rednern. Neben parlamentarischen Reden waren auch Redebeiträge darunter, die sich an die eigene Partei richten – beispielsweise vom Bundesparteitag der Piraten. Im Ergebnis zeigt sich eine enorme Spanne von extrem gut verständlichen Reden bis hin zu erstaunlich schlecht verständlichen Texten. Der Top-Wert ist 9,6. Das ist beinahe perfekt. Der niedrigste Wert liegt bei gerade einmal 3,8 Punkten.

Wer hat am besten abgeschnitten?
Jan Kercher: Die erste Piraten-Rede, die im Landtag von Nordrhein-Westfalen gehalten wurde. Sie war formal am leichtesten verständlich und hat entsprechend den besten Wert erzielt. Robert Stein hat sie gehalten. Er hat ohne Manuskript, offensichtlich sogar ohne Stichwortzettel gesprochen. Das wussten wir bei der Analyse noch nicht. Wir hatten ja den transkribierten Text von Ihnen bekommen. Dass Robert Stein frei gesprochen und ein so gutes Ergebnis erzielt hat, verwundert aber eigentlich kaum. Denn freie Rede ist fast immer einfacher verständlich als ein ausformuliertes Manuskript, das vorgetragen wird. Zumindest, wenn es sich um einen geübten Redner handelt – oder um einen mit Naturtalent. Jemand, der zum ersten Mal eine Rede hält, sollte sicht gut überlegen, ob er frei spricht.

Woran liegt es, dass die freie Rede klarer verständlich ist?
Jan Kercher: Wenn man eine Rede schreibt, dann formuliert man automatisch eher wie in der Schriftsprache als bei freier Rede. Schriftsprache weist im Allgemeinen aber deutlich komplexere Satzkonstruktionen, ein anspruchsvolleres Vokabular und eine höhere Informationsdichte auf als Sprechsprache. Dazu kommt: Beim Schreiben einer Rede hat man in der Regel viel Zeit, nachzudenken. Nicht nur über den Inhalt, sondern auch über die Wirkung. Der Redner überlegt beispielsweise sehr genau, ob und wie er später in der Presse zitiert werden könnte. Politiker – und auch Vertreter der Wirtschaft – wollen in der Regel nicht mit unangenehmen Inhalten zitiert werden. Wenn es also inhaltlich kritisch wird, formulieren sie bewusst schwammig und unverständlich. Denn dann wird das auch nicht zitiert, so die Hoffnung.

Es ist also die Angst vor der Presse, die den Redner treibt?
Frank Brettschneider: Sie spielt zumindest eine gewisse Rolle. Viele Politiker haben Angst, dass sie Wähler verlieren. Viele Unternehmer haben Angst, dass ihre Aussagen nicht rechtssicher sind. Das führt dazu, dass sie übervorsichtig formulieren. Und das geht dann natürlich zulasten der Klarheit. In der Politik will man sich außerdem oft Spielräume offen halten, beispielsweise für mögliche Koalitionen. Meines Erachtens liegt hier aber eine falsche These zugrunde – dass das Offenhalten durch nebulöse Formulierungen mehr hilft als schadet. Das Gegenteil ist der Fall. Unklare Formulierungen schaden weit mehr, als den Rednern bewusst ist. Aber das ändert sich langsam. Die Piraten zeigen, dass klare Aussagen und selbst das Zugeben von Schwächen funktionieren können. Man muss nicht immer alles in Watte packen und absichern. Und auch das Vorgaukeln von Kompetenz – etwa durch häufigen Gebrauch von Fachsprache – muss nicht sein.

Wie meinen Sie das?
Jan Kercher: Die Piraten schützten sich sprachlich weniger als andere Parteien. Einige mussten ja auch schon aufgrund einzelner Äußerungen zurücktreten. Es gibt ein sehr treffendes Zitat von Miriam Meckel, das lautet: „Wer Klartext redet, läuft Gefahr, verstanden und beim Wort genommen zu werden.“ Zu wenig Angst ist also auch nicht gut, genauso wie zu viel. Zu viel Angst führt zu langweiligem Herumgesülze. Bei der Fußball-EM ist für viele Trainer das Wichtigste, dass ihre Mannschaft keine Gegentore bekommt. Dann wird das Spiel langweilig: Aus Angst, Tore zu kassieren, wird nicht nach vorne gespielt. Die Politik scheint dies verinnerlicht zu haben. Mit verheerenden Folgen. Es ist ja inzwischen so, dass unglaublich viele Menschen genervt sind vom verklausulierten Politiker-Sprech. Wenn dann eine direkte und offene Sprache kommt, ist das wie eine Befreiung. Das bewegt. Das sehen Journalisten auch so. Deshalb stürzen sie sich ja so sehr auf das Frische, Unverstellte. Auf die Piraten.

Sind denn die Piraten wirklich immer unverstellt oder ist das Teil einer Strategie?
Jan Kercher: Manchmal habe ich schon den Eindruck, dass es eine Strategie ist. Dass die Piraten es bewusst ausnutzen, mit Frische oder auch recht deftiger Umgangssprache herauszustechen. Es ist eine Art Aufmerksamkeitsstrategie. Da fallen dann gerne mal Worte wie „Dreckmist“. Das fällt auf und wird zitiert. Daraus folgt übrigens auch der Schluss, dass die Piraten angeblich alle so verständlich reden. Wenn ab und zu das Wort „Kackscheiße“ fällt – und das fällt tatsächlich – dann ziehen wohl einige Menschen automatisch den Schluss: Da redet ja jemand wie ich, das verstehe ich, dann muss der Rest auch verständlich sein. Auch Journalisten schreiben ja immer wieder, dass die Piraten verständlich seien. Sie lassen sich auch vom „Kackscheiß“ verführen. Vieles bleibt aber eben – objektiv betrachtet – auch bei den Piraten nur mäßig verständlich.

Kommen wir zurück zur Rede von Pirat Robert Stein, die beachtliche 9,6 auf Ihrer 10er-Skala erreicht hat. Was war besonders gut an der Rede?
Jan Kercher: Robert Stein hat extrem wenige abstrakte Begriffe und gekünstelte Substantivierungen verwendet. Nur etwa jedes zehnte Substantiv fällt in diese Kategorie. Hier war sie top. Zum Vergleich: In einer anderen der 18 untersuchten Piratenreden ist jedes dritte Substantiv eine abstraktes Substantiv. Aber es sind bei Stein nicht nur die wenigen abstrakten Begriffe. Die Stein-Rede zählt auch in den meisten anderen Kategorien zumindest zu den Top-3. Beispielsweise macht der einfache Grundwortschatz bei Stein fast 70 Prozent der Rede aus. Bei seinen Kollegen haben wir auch Werte von nur knapp über 50 Prozent gemessen. Gut ist auch, dass Stein mit einem niedrigen Fremdwortanteil auskommt. Der Anteil liegt bei knapp 5 Prozent. Andere Piratenreden erreicht hier fast 10 Prozent. Auch die Satzlänge stimmt. Die Sätze von Stein sind im Schnitt 13 Wörter kurz. Andere Reden liegen bei 18 oder fast 19 Wörtern. Wohlgemerkt im Schnitt. Einzelne Sätze der anderen Reden hatten durchaus auch 50, 60 Wörter oder noch mehr. Das ist viel zu viel. Wenn dann noch Begriffe wie „Creative Commons-Lizenz“ oder Abkürzungen wie „DRM“ auftauchen – und nicht erläutert werden –, schaltet der fachfremde Hörer ab. Das führt dann dazu, dass einige Piraten sogar bei ihren Kernthemen unverständlich sind.

Warum werden solche Begriffe nicht erläutert?
Frank Brettschneider: Wir nennen das den „Fluch des Wissens“. Wer sich lange mit einem Thema beschäftigt, der merkt irgendwann nicht mehr, dass er für andere nicht mehr verständlich ist. Das ist nicht nur bei den Piraten so. Auch in anderen Parteien oder in der Wirtschaft kommt es immer wieder vor, dass die eigene Fachsprache nicht mehr übersetzt wird. Die Linkspartei war in ihrem Bundestagswahlprogramm von 2009 gegen „Agroenergie-Importe“ und meinte damit die Einfuhr von Bio-Diesel. Warum sagt sie es dann nicht? Die Union forderte in ihrem Programm zur Bundestagswahl die „Abflachung des Mittelstandsbauches“. Da denkt auch nicht jeder zuerst an zu hohe Steuern für den Mittelstand, sondern eher an den notwendigen Besuch im Fitness-Studio. Die Worte werden nicht mehr auf die jeweilige Zielgruppe angepasst. In gewisser Weise ist es menschlich, dass man vergisst, in seinem Fachgebiet auch für Laien verständlich zu sein. Teilweise ist es aber auch ein strategisches Mittel, das bewusst eingesetzt wird. Weil man nicht verstanden werden will – etwa dann, wenn man unpopuläre Maßnahmen vorschlägt.

Ihr Fazit zum Thema Sprache der Piraten, Herr Kercher?
Jan Kercher: Die Sprach-Heterogenität bei den Piraten ist größer als bei anderen Parteien. Sicherlich: Eine Frau Nahles steht in der SPD für Bürokratendeutsch, ein Herr Müntefering in der gleichen Partei für Subjekt-Prädikat-Objekt. In jeder Partei gibt es Unterschiede. Bei den Piraten sind sie aber offensichtlich größer. Es gibt enorme Ausreißer nach unten, aber auch nach oben. Und zumindest bei denen, die sich durch Klartext positiv abheben, kann man sagen: Ein neuer Sprachstil und damit auch ein neuer Politikstil, denn Politik besteht nun einmal zum großen Teil aus Sprache. Der Stil der Piratenpolitik ist ja teilweise auch wichtiger als die eigentlichen Themen, es geht häufig mehr um das „Wie“ der Politik als um das „Was“. Ich glaube, dass der Sprachstil der positiven Ausreißer viel bewirken kann. Das Bewusstsein für eine klarere Sprache in Politik und Wirtschaft könnte dadurch einen weiteren Schub erhalten. Erste Ansätze gibt es hier ja schon.

Zum Beispiel?
Jan Kercher: Es gibt mittlerweile erste Klartext-Beiräte in einigen Unternehmen. Die Ergo-Versicherung ist hier ein gutes Beispiel. Sie hatte ja den Slogan: „Versichern heißt verstehen“. Das heißt auch: Sie müssen sich selbst beim Wort nehmen. Daraufhin haben sie ihre Versicherungsbedingungen teilweise erheblich gekürzt – mitunter von 40 Seiten auf zwei oder drei Seiten –, und einen Klartext-Beirat eingerichtet, der die Einhaltung der eigenen Verständlichkeitsziele fördert und überwacht. Auch wir haben einen solchen Beirat an der Uni eingerichtet. Ich bin Teil davon. Wenn jemand aus der Uni-Verwaltung einen Text hat und sagt, der verständlicher werden soll und ihm das selbst nicht recht gelingen will, bittet er den Beirat um Hilfe. Wichtig ist: So einen Beirat kann man nicht von oben diktieren, der Wille dafür muss da sein – und zwar überall. Oder um es einmal wie unser stellvertretender Ministerpräsident zu formulieren: Das Ganze muss von unten wachsen.

Und Ihr Fazit, Herr Brettschneider?
Frank Brettschneider: Es ist gut, über den Einfluss der Piraten auf die Sprache in Politik und Wirtschaft zu diskutieren. Aber das allein reicht noch nicht. Dass wir ein Verständlichkeitsproblem in der Politik und in der Wirtschaft haben, ist ja nicht neu. Und das Wissen, wie man sich verständlich ausdrücken kann, gibt es ja schon lange. Aber wir müssen hier mehr auf Zählbares setzen, die Unterschiede zwischen Reden quantifizieren. Nachdem wir unser Mess-System auf die Reden der DAX-30-Vorstände angewandt haben, haben sich viele Redenschreiber bei uns gemeldet und gesagt: „Danke, dass ihr das messbar macht.“ Vorstände sind Zahlenmenschen. Kommunikationsabteilungen weisen oft auf die Unverständlichkeit von Reden oder Texten hin, werden aber von den Fachabteilungen oder den Juristen „überstimmt“; ihre Meinung wird als „subjektiver Eindruck“ abgetan. Jetzt vergleichen sich die DAX-30-Vorstände untereinander und fragen nach, wenn sie einen schlechteren Wert haben als andere. Wir brauchen also mehr objektive Messmethoden, um den Rednern den Spiegel vorhalten zu können. Und um sie dabei zu unterstützen, nicht nur von Fachleuten verstanden zu werden, sondern von allen Anspruchsgruppen ihres Unternehmens.

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